Das ist schon eine bemerkenswerte
Entwicklung. Ein Spitzenpolitiker wird einer unfeinen Handlung
bezichtigt und die politische Klasse verurteilt die Bezichtigerin.
Das neue FDP-Aushängeschild Rainer Brüderle soll nachts in einer
Hotelbar eine junge Journalistin sexuell bedrängt haben. Konkret
geht es um unangebrachte Bemerkungen und eindeutige Avancen. Außerdem
soll er eine angemessene körperliche Distanz unterschritten haben.
In den Reaktionen der offiziellen Politik wird er nicht als greiser
geiler Bock gegeißelt. Immerhin traut man sich inzwischen auch nicht
mehr, ihn deshalb unverhohlen als tollen Hecht zu loben. Das macht
man heutzutage eher zwischen den Zeilen oder im Hinterzimmer.
Stattdessen wird kritisiert, dass bereits die Anwesenheit der
Journalistin nachts in der Hotelbar zusammen mit Politikern
unangebracht sei. Auch dass sie erst nach etwa einem Jahr darüber
schreibt, wird natürlich als Indiz angesehen, dass es sich hier um
eine gezielte Rufmord-Kampagne gegen Brüderle handelt. Erstaunlich
ist, dass die etablierten Medien unisono den selben Tenor schmettern.
Differenziertere Betrachtungen finden sich zunächst ausschließlich
im Internet. Insbesondere auf Twitter findet unter dem Hashtag
#aufschrei eine lebhafte Debatte statt. Außerdem berichten viele
Frauen von ähnlichen Erlebnissen, über die sie bisher nicht
berichtet haben. Als Reaktion darauf fangen nun auch die Etablierten
damit an, das Ganze weniger einseitig zu bewerten.
Nun, die ursprüngliche Bewertung hat
sicher in erheblichem Maße mit Rollenklischees zu tun, die wir in
unserer fortschrittlichen Gesellschaft noch immer nicht überwunden
haben. Zum Beweis betrachten wir den Vorfall doch einmal hypothetisch
mit umgekehrten Vorzeichen. Der redliche Politiker und treue Ehemann
Rainer Brüderle sitzt im zarten Alter von 67 Jahren mit einer jungen
und leicht gereontophil veranlagten Journalistin in der Hotelbar.
Dazu bedarf es zugegebenermaßen eines gehörigen Maßes Fantasie. Er
möchte seine politischen Überzeugungen und Ziele erörtern, während
sie niedere Ziele verfolgt. Zunächst lässt sie mit Blick auf sein
Gesäß eine anzügliche Bemerkung fallen: „Sie können aber auch
eine Lederhose füllen.“ Das könnte man angesichts seines Alters
zwar missverstehen aber gemeint ist nicht etwa ein Pflegeproblem,
sondern seine physische Ausstattung. Natürlich erfordert auch diese
Vorstellung wieder viel Fantasie, aber es ist ja nur eine Parabel.
Als nächstes nähert sich die junge Frau dem Unschuldigen und deutet
vage eindeutige Angebote an. In höchster Not rettet die Assistentin
den Politiker, indem sie ihn darauf hinweist, dass es Zeit sei,
schlafen zu gehen. Wie sähe nun die Bewertung dieses Vorfalls aus?
Zunächst würde die Frau ohne Zweifel als moralisch verwahrlost
eingestuft. Dem Politiker würde man die Opferrolle nicht im
Mindesten absprechen. Die Rollenverteilung Täter(in) und Opfer wäre
für alle klar. Allerdings hätten wir davon nie in der Presse
gelesen und auf Twitter hätte der Hastag vermutlich #weichei
gehießen.
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