Obwohl die Sicherheitssysteme moderner Industrieanlagen ständig verbessert werden, kommt es - ganz selten - doch gelegentlich zu kleineren Störfällen. Karl Ranseier, Hobbyaquarianer und von Beruf zweiter Vorsortierer bei der Exundhopp Wertstoffverwertungs GmbH, macht sich daher auch keine Sorgen darüber, dass er neben einem großen Chemiewerk wohnt. Es handelt sich dabei schließlich auch nicht um irgend ein Feld-, Wald und Wiesenchemiewerk, sondern um das Hauptwerk der Pestilenz AG, die berühmt dafür ist, die besten Anlagen der Welt zu haben. Nur sehr sehr selten tritt einmal einer der wirklich aggressiven und hochgiftigen Stoffe aus, mit denen die Pestilenz AG so gute Geschäfte in unterentwickelten Ländern macht. Die Umwelt um das Werk herum ist noch ziemlich intakt. Erst neulich konnte Karl sogar einen Pflanzenkeim direkt an der Werksmauer entdecken. Ein Grashalm wars, der sich da vorwitzig zwischen den Pflastersteinen einen Weg ans Licht suchte. Das sah sehr hübsch aus. Nur schade, dass ausgerechnet an dieser Stelle ein winziges Wölkchen ätzenden Gases darauf wartete, von der tüchtigen Werksfeuerwehr wieder eingefangen zu werden. Danach ist dort nie wieder etwas gewachsen. Aber das ist ja erst zwölf Jahre her. Man soll die Hoffnung nie aufgeben.
Karl Ranseier hat sich an den strengen Geruch gewöhnt, der bisweilen von dem Werk ausgeht und empfindliche Gardinen braucht er wirklich nicht zum Glücklichsein. Die Pestilenz AG hat vor ein paar Jahren allen Anwohnern Aluminium-Jalousien geschenkt und die sehen doch schließlich auch sehr wohnlich aus. Überhaupt geht der Chemiekonzern sehr fürsorglich mit seinen Nachbarn um. Es vergeht keine Woche, in der nicht Mitarbeiter des Werkschutzes in einer nächtlichen Aktion die Autos der Anwohner waschen. So sauber war sein Auto nie, als er noch im Grünen gewohnt hat. Allerdings war es früher auch nicht mausgrau.
Wie gesagt, Karl macht sich wegen der Chemiekalien in dem Werk keine Gedanken. Dass in dieser Gegend seit drei Jahrzenten keine Kinder mehr geboren wurden, wird reiner Zufall sein. Und woanders gibt es auch Menschen mit Glatzen, auch wenn sie dort nicht die absolute Mehrheit ausmachen. In der Gegend um das Werk herum gibt es keine Insekten, keine Ratten und auch ansonsten keine Tiere. Ein Zustand, um den die Bewohner hier sicher von anderen beneidet werden. Karl hat ein Aquarium. Seine Fische sind gegen alle Umwelteinflüsse resistent. Er hat sie von der Pestilenz AG geschenkt bekommen und sie scheinen wirklich alles verkraften zu können. Zudem sehen sie mit ihren leuchtenden Schuppen und den leeren Augenhöhlen wirklich exotisch aus.
Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen kann es aber doch einmal passieren, dass etwas, das normalerweise in speziellen Behältnissen aus raumfahrterprobten Materialien aufbewahrt wird, den Weg in die Freiheit findet. Die Pestilenz AG betreibt dann eine ausgesprochen offene Informationspolitik und klärt die Bevölkerung stets umgehend und umfassend darüber auf, dass keine Gefahr besteht. So trat vor kurzem die Chemikalie Trichlorxylolulilaladingsbums aus, die im Verdacht steht, Krebs, Siechtum und Zipperlein auszulösen und die außerdem stark ätzend ist. Trichlorxylolulilaladingsbums wurde früher als Entlaubungsmittel in die Dritte Welt verkauft. Wie wirksam das Mittel ist, kann man in der Sahara bewundern. Schon etwa 72 Stunden nach dem Störfall tritt die Pestilenz AG an die Öffentlichkeit. Ein Sprecher des Chemiekonzerns spricht vor den Fernsehkameras und zu den Anwohnern. Zu keiner Zeit habe eine Gefahr für die Bevölkerung bestanden, beteuert er, während im Hintergrund Werksfeuerwehr zu sehen ist, die Wasservorhänge steuert. Es sei lediglich eine sehr geringe Menge Trichlorxylolulilaladingsbums ausgetreten und außerdem sei das gar nicht so gefährlich, wie allgemein behauptet wird. Der Mann ist durch seinen schweren Atemschutz schlecht zu verstehen, aber Karl glaubt, verstanden zu haben, dass er, als er sich noch nicht auf Sendung wähnte, betete. Seine Schutzmaske und der glänzende Overall wirken sehr seriös und beruhigen Karl. Er wundert sich allerdings ein wenig, als er bemerkt, dass erheblich Teile seiner Kunstledercouch an seiner Hose hängen bleiben, als er aufsteht, um empfehlungsgemäß das Fenster zu schließen. Beim Versuch, die Hose zu reinigen, löst sie sich ebenfalls in Fetzen auf. "Heutzutage wird nur minderwertige Qualität verkauft.", schimpft Karl. Als er das Fenster schließen will, fällt die Glasscheibe auf die Straße. Der Fensterkitt ist zu Staub zerfallen. "Typisch," denkt sich Karl, "diese Handwerker nehmen immer wieder unbrauchbares Material, damit sie oft kommen müssen." Sieben mal war der Glaser dieses Jahr schon hier und es ist erst Mitte Feburar. Auf der Straße fährt ein PKW ungebremst in ein Schaufenster.
Karl schimpft über diese Sonntagsfahrer.
Bevor Karl wieder an seinen Platz auf den Rudimenten seines Sofas zurückkehren kann, bemerkt er, wie ein seltsames Gefühl in ihm aufsteigt. Er fühlt sich ganz leicht und glaubt zu schweben. Schwerelos gleitet sein Wohnzimmer an ihm vorbei. Seine Diele und das Treppenhaus ziehen ebenso an seinem verklärten Auge vorbei, wie die vielen Menschen, die in Schutzkleidung auf der Straße stehen. Ohne jede Anstrengung schwebt Karl in das Innere eines Rettungsfahzeugs dessen Tür sich wie von Geisterhand geführt, hinter der Bahre, auf der er liegt, schließt. Karl bemerkt jetzt, dass er in einem Rettungsfahrzeug der Werksfeuerwehr liegt, das mit Blaulicht, Martinshorn und irrem Tempo ins Werkskrankenhaus rast. Ja, die Pestilenz AG sorgt wirklich rührend für die Anwohner des Chemiewerks. Karl wird behutsam auf einen Seziertisch gelegt. Erfahrene Ärzte des Chemiekonzerns untersuchen ihn im Wortsinne auf Herz und Nieren und stellen fest, dass er eines ganz natürlichen Todes gestorben ist.
Für die Bevölkerung hat zu keiner Zeit eine Gefahr bestanden.
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